Bunt, offen, visionär: So geht Stadtentwicklung

Kopenhagen ist ein Eldorado für Stadtplaner, Architektur- und Designfans. Die mutigen Visionen machen die bunte Stadt zum Musterschüler Europas in puncto Städteplanung. Eine Reportage von Gisela Gary.

„Den Begriff Migrant kennen wir nicht – bei uns sind alle Zuwanderer und Ausländer einfach neue Dänen“, schmunzelt Bo Christiansen, vom Netzwerk guiding architects. Kopenhagen ist Teil der EU – das Beibehalten der dänischen Krone ist dabei offensichtlich nur ein Synonym für die Eigenständigkeit und die betonte Vielfalt des reichsten nordischen Landes. Die Vielfalt spiegelt sich bereits in den ersten Stunden auf dänischem Boden in den Gebäuden, der Buntheit und den abwechslungsreichen Entwürfen wider. Bauen am Wasser ist die Zukunft – ehemalige Industrie- und Hafengebiete werden für großvolumige Wohnbauten intensiv genützt. Kräne und Baustellen, wohin man schaut, doch eines ist gänzlich anders: ­Jeder Wohnbau hat seinen eigenen Charakter, jeder Bau sein eigenes Konzept. Und Hochhäuser gibt es keine.

Grünflächen und Wachstum

Der Guide Bo Christiansen betont die eifrigen Ambitionen von Kopenhagens Stadtplanern: „Autos werden nicht mehr akzeptiert. Die Stadt hat sich zum Ziel gesetzt, dass die Bevölkerung via Rad und zu Fuß unterwegs sein muss.“ Radfahren ist jetzt schon Alltag. Über 50 Prozent der Kopenhagener sind Pedalritter. Bis 2025 will Kopenhagen CO2-neutral sein, „ein ambitioniertes Ziel, aber schaffbar“, meint Christiansen. 90 Prozent der Gebäudewärme wird mit Fernwärme erzeugt. Auch bei den Industriebauten zeigt sich die Stadt innovativ – zurzeit wird eine neue Verbrennungsanlage errichtet, das schräge Dach soll als Skipiste genutzt werden (­siehe Immobilienwirtschaft Nr. 3/14). Eines der obersten Prinzipien der Stadt­entwicklung lautet Grünflächen erhalten – und zugleich das Wachstum der Stadt zu beschränken. Der dänische Architekt Peter Bredsdorff entwarf dafür einen Stadtentwicklungsplan. Dieser Plan gilt in leicht aktualisierter Form heute noch. Die Stadtentwicklung ist seither auf fünf Korridore entlang der Hauptverkehrsachsen beschränkt – daher auch der Name Fingerplan. Die „Handfläche“ ist das Zentrum der Stadt. Zwischen den „Fingern“ wurden geschützte Naherholungsgebiete errichtet – die von den Vorstädten bis ins Stadtinnere reichen. Hochhäuser werden so gut wie keine genehmigt – dafür dürfen brachliegende Gebäude wie zum Beispiel alte Speicher relativ unkompliziert und rasch für die Schaffung von Wohnraum genützt werden. Hinter all den Bemühungen wie auch dem extrem hohen sozialen Standard steht die Königsfamilie, die in Dänemark geschätzt und respektiert wird. Die öffentliche Hand schaut auf ihr Volk – 90 Prozent der Bauaufträge stammen von der Regierung.

Neu und alt gemeinsam

Die unzählig vielen ehemaligen Korn­speicher werden exzessiv genutzt. Blue Planet ist der neue Besuchermagnet Kopenhagens, ein Riesenaquarium in perfekter Sichtbetonqualität, das skulptur­ähnliche Gebäude schmiegt sich ans Meer und bietet dem Besucher auf rund 9.000 Quadratmeter Geländefläche rund 20.000 verschiedene Wassertiere. Die ­Architekten 3XN entwarfen einen Wasserstrudel für den Bau. Weil Wasser, ja, das spielt einfach eine ganz wesentliche Rolle bei den Dänen. Daher auch solche Szenen, die ­Besucher in Erstaunen versetzen. Bei rund zehn Grad Wassertemperatur baden da Dänen munter im Meer. „Wir gehen das ganze Jahr hinein“, so Christiansen. Dieser Leidenschaft kommt die Vielzahl an neuen Wohn- und Landschaftsplanungsprojekten entgegen. Mit dem Amager Strandpark schuf die Stadt nach Plänen von Haslov and Kjaersgaard Planners and Architects eine Oase für Stadtflüchtende. Auf rund 60 Hektar wurde eine künstliche Insel errichtet, die aus einem rund fünf Kilometer langen Badestrand besteht und ein Naherholungsgebiet für zahlreiche Vögel bietet. Dem starken Wind zum Trotz tummeln sich auch unter der Woche einige Dänen – oder neue Dänen – und genießen ihre Freizeit.

Kultur pur

Kultur, Sport und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen sind ein zentrales Anliegen der Stadt. Die Jugend soll gefordert und beschäftigt werden, die vielen verschiedenen „neuen Dänen“ den Umgang mit­einander lernen. Im Holmbladsgade, am Rand von Kopenhagen, wurde das Prism errichtet, ein Sport- und Kulturzentrum, das die Nachbarschaft sportlich miteinander verbindet – Herkunft, Religion und Status sind hier kein Thema. Alle kommen zum Fußball oder auch zu Konzerten und anderen Veranstaltungen. Das ehemalige triste Viertel sollte aufgewertet werden, dazu kam eine Vielzahl an Wohnbauten, die Familien und Singles einen neuen ­attraktiven Wohnort versprachen. Auffällig sind die vielen Grünbereiche und großzügigen Plätze mit Sitzmöbeln – die auch reichlich genutzt werden. Das Miteinander fördern will auch das Nachbarschafts- und Kulturhaus, in einer ehemaligen Fabrik. Auf der Weiterfahrt sticht die königliche Oper mit ihrem weit auskragenden Dach ins Auge. Ein Entwurf von Henning Larsen, der ein bisschen dem KKL in Luzern von Jean Nouvel abgeschaut wirkt. Ein privater Bauherr übernahm die Kosten – 500 Millionen Euro – für den Prachtbau: „Deshalb konnte er auch das eigentlich Unmögliche durchsetzen, dass die Sichtachse zum Königs­haus voll genutzt wird. Doch der Bau steht auf der falschen Seite der Stadt. Jetzt wird noch eine Fußgängerbrücke errichtet, damit man aus Kopenhagen zu Fuß zur Oper gelangt“, merkt Christiansen an.
Das königliche Schauspielhaus, geplant von den Architekten Lundgaard & Tranberg, erhielt ebenso einen prominenten Platz direkt am Wasser. Und wieder eine dänische Besonderheit: Der Platz davor wurde großzügig angelegt, Stühle und Tische laden zum Verweilen, Lernen oder auch nur zum In-die-Sonne-Blinzeln ein.

Typisch skandinavisch

Mit dem Wassertaxi – ein öffentliches Verkehrsmittel in Kopenhagen – geht’s in Richtung Sluseholmen, ein Stadtgebiet im südlichen Hafen, das Amsterdam zum Vorbild hatte. Künstlich angelegte Kanäle sind die „Straße“ für die Bewohner der rund 1.000 Wohnungen, die hier errichtet wurden. Die Bewohner im Erdgeschoß haben einen direkten Zugang zum Wasser und somit alle auch ein Boot vor der Haustüre, die oberen Wohnungen verfügen dafür über eine Dachterrasse mit sensationellem Ausblick: „Das ist das dänische Prinzip, es soll allen gut gehen“, erläutert Christiansen das Konzept. Mit diesem Wohnbau wurde ein Kanalviertel auf insgesamt acht Inseln geschaffen. 25 Architekten wurden mit den ­Entwürfen der Wohnungen beauftragt, um die be­liebte Vielfalt an Designs gewährleisten zu können.

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