Hic sunt Dracones
Warum es am besten wäre, den Osten und die Dörfer zu verlassen und Junge und Alte in den Städten zu konzentrieren.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Der Mann, der vor mir stand und meine Tasche durchsuchte, versuchte nicht zu verbergen, dass ich ihn gestört hatte. Misstrauisch hatte er meinen Reisepass untersucht. Dann war meine Tasche dran. Seine Laune sollte sich an diesem Morgen nicht mehr bessern. Spaßvögel mögen sie hier nicht. Und mein Anliegen konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ich konnte doch nicht ernsthaft meinen, ich könne in die New York Public Library spazieren, meine Tasche und meinen Reisepass vorzeigen, ein Formular ausfüllen und dann seelenruhig in den dritten Stock spazieren und den Hunt-Lenox-Globus betrachten. Den was? Der Hunt-Lenox-Globus ist der zweitälteste Globus der Welt. Er besteht aus Kupfer und wurde im Jahr 1510 gefertigt. Der oder die Hersteller des Hunt-Lenox-Globus hatten wohl von Reisenden und aus Schriften allerlei Merkwürdigkeiten über das Morgenland erfahren. Um das zu reflektieren, schrieben sie auf die Umrisse der Ostküste Asiens „Hic sunt Dracones“, zu Deutsch: Hier gibt es Drachen. Was hat mein Scheitern in New York mit Immobilien für unsere alternde Gesellschaft zu tun? Eine Menge.
Warum?
Mein Scheitern in New York hat eine Menge mit den Immobilien für unsere alternde Gesellschaft zu tun, weil das Kernproblem weniger die Immobilien sind und eher die Tatsache, dass sie sich an den falschen Orten befinden. Warum? Weil sich viele Probleme auflösen würden, wenn unsere Alten nicht in Ostdeutschland und auf dem Land, sondern in den Städten leben würden. Daher mein Appell: Verlassen wir Ostdeutschland, verlassen wir die Dörfer und ziehen wir in die Städte. Sie glauben mir nicht? Ich will es Ihnen erklären. Etwa 20 Millionen Senioren leben in Deutschland, verteilt auf etwa 11 Millionen Haushalte. Zu Ende ihres Berufslebens stellt sich ihnen allen die Frage nach dem Danach, zu der auch die Frage nach der eigenen Wohnsituation gehört. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Bei Renteneintritt sind meist die Kinder aus dem Haus. Die Kredite sind abbezahlt. Die Rente ist sicher. Selten sind wir wirklich so frei wie an diesem Punkt unseres Lebens.
Wenig Alte wollen umziehen
Schade, dass wir von dieser neu gewonnenen Freiheit kaum Gebrauch machen. Die Wohnsituation der alten Deutschen ist bestens erforscht. 2011 beispielsweise erschien eine Studie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) mit dem Titel: „Wohnen im Alter“. Die Studie belegt, dass 93 Prozent der Deutschen im Alter genau da bleiben, wo sie sind. Dabei sind ihre Wohnungen oftmals nicht mehr für sie geeignet. So seien nur etwa 600.000 Seniorenhaushalte barrierefrei, während in 2.700.000 Haushalten Menschen mit Mobilitätsbeschränkungen lebten. Lediglich 25 Prozent der Alten sind bereit, ihre Wohnsituation im Alter noch einmal zu verändern. Zweifelsfrei spielen dabei zwei Faktoren eine Rolle: Erstens leben nach einer Erhebung der Bundesbank in der Mieternation Deutschland 59 Prozent der über 65-Jährigen im selbstgenutzten Wohneigentum. Zweitens sind deutsche Rentner und Pensionäre weit überdurchschnittlich gesellschaftlich engagiert. Ein Umzug bedeutet für diese Menschen schlichtweg die Aufgabe ihres Eigenheims und den Verlust ihres Freizeitvertreibs.
Besorgniserregend ist dabei, dass die Alten nicht nur nicht umziehen wollen, sondern auch nur in engen Grenzen bereit sind, in den altersgerechten Umbau ihrer Häuser zu investieren. Zwar sind nach der oben zitierten Studie drei Viertel der Seniorenhaushalte zu einem altersgerechten Umbau ihrer Wohnungen bereit. Sie wollen dafür aber nur in sehr begrenztem Umfang, nämlich zwischen 1.000 und 5.000 Euro, investieren. Die meisten Alten in Deutschland sind also inadäquat untergebracht. Leider wollen sie partout nicht umziehen und keinesfalls mehr als 5.000 Euro investieren, um ihre Wohnung altersgerecht zu machen. Die Politik hat auf diese Sachverhalte mit einem Fördertopf der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW) reagiert, die nun Kredite und Zuschüsse für Umbauwillige bereithält.
Diese Lösung greift allerdings zu kurz
Warum? Weil eine gute Lösung einen entscheidenden Großtrend unserer Gesellschaft berücksichtigen müsste. Wir altern nämlich nicht flächendeckend gleichmäßig. Richtig ist, wir altern in bestimmten Gebieten, während wir in anderen sogar jünger werden. So zeigt etwa ein 2008 von der Bertelsmann Stiftung herausgegebener Bericht zur Alterung unserer Gesellschaft, dass die Bevölkerung vor allem in Mittel- und Ostdeutschland, aber auch in weiten Teilen des Saarlandes und in Teilen Norddeutschlands, etwa in Friesland, stark altert. Metropolregionen, etwa die Städte München, Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und Stuttgart, sind von der Alterung aber nicht betroffen. Wir altern also regional. Das hat für Alte und Junge Nachteile. Die Lösung wäre, dass wir alle in die Städte ziehen.
Warum? Zunächst würde die Vereinsamung der Alten gestoppt. Um diese Vereinsamung zu verstehen, müssen Sie sich eine gängige Unterscheidung bewusst machen. Alt ist nämlich nicht gleich alt. Geläufig wird zwischen jungen Alten (65 – 75 Jahre), Alten (75 – 85 Jahre) und Betagten (über 85 Jahre) unterschieden. Den Alten und den Betagten sterben nach und nach die sozialen Kontakte weg. Das Ehrenamt wird zu mühsam. Wie schön es doch wäre, nun die Kinder und Enkelkinder um sich zu haben. Leider wohnen die in der Stadt, weshalb die Alten vereinsamen.
Um alles noch schlimmer zu machen, fällt den Alten und den Betagten das Autofahren immer schwerer. Die Augen lassen nach, die Konzentrationsfähigkeit auch. Im Dorf gibt es aber keinen Arzt mehr, der nächste Supermarkt ist kilometerweit entfernt. Die Dörfer vergreisen. Niemand hat mehr Energie, um Kulturprogramme anzubieten. Also wird das Leben eintönig. Der Fernseher wird schon zum Frühprogramm eingeschaltet. Die Kinder sind in der Stadt. Wären die Alten auch in der Stadt, könnten sie gemeinsam leben. Mehrgenerationenhaushalt 21. In der Stadt gibt es mehr Ärzte. Bus und Bahn machen das Auto überflüssig. Der Bäcker ist an der Ecke, der Supermarkt in der nächsten Straße. Am Abend geht es ins Konzert.
Investieren in eine Ruine
Die öffentlichen Kassen würden mit Sicherheit entlastet. Abgelegene Straßen könnten aufgegeben, Verwaltungen könnten eingespart werden. Auch würden wir nachhaltiger investieren. Wieso? Weil Investitionen, die ein 70-Jähriger in sein Haus in einer ostdeutschen Kleinstadt macht, mittelfristig verloren gehen. Seine Erben werden in dem Haus nicht leben wollen, Käufer werden sich kaum finden. Er investiert in eine werdende Ruine. Woher will ich denn wissen, dass die Kinder der Alten nicht selbst im Alter aufs Land ziehen wollen? Das weiß ich nicht. Allerdings würde das einem weiteren Großtrend wiedersprechen. Wir werden nämlich nicht nur immer älter. Wir arbeiten auch länger. 2008 gab es 50.000.000 Deutsche im erwerbsfähigen Alter. 2050 werden es zwischen 36.000.000 und 39.000.000 sein. Um das auszugleichen, werden wir gar nicht anders können, als länger zu arbeiten, und dafür werden wir in den Städten leben bleiben. Selbstverständlich werden auch wir dennoch irgendwann in Rente gehen, dann aber kaum den Supermarkt um die Ecke, den Arzt in der Nachbarschaft und das Konzert am Abend gegen ein Leben auf dem Land tauschen wollen.
Wölfe statt Drachen
Was hat das nun mit dem Hunt-Lenox-Globus zu tun? Neulich habe ich gelesen, dass sich in wenig besiedelten Teilen Ostdeutschlands wieder Wölfe ansiedeln. Sollten wir wieder Erwarten meinem Vorschlag folgen, den Osten und die Dörfer aufgeben und in die Städte ziehen, steht im Schulatlas meiner Enkelkinder vielleicht später „Hic sunt Lupae“ an der Stelle, wo heute Mecklenburg-Vorpommern eingetragen ist. Ich entschuldige mich für die Provokationen dieses Essays und danke Ihnen für die Anerkennung des richtigen Hinweises, dass die Lage von Immobilien für eine erfolgreiche Strategie zur Bereitstellung von Immobilien für unsere alternde Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen wird.