Die Qual der Wahl

Der Druck der Nachhaltigkeit jagt auch die Baustoffindustrie. Hinzu kommt: Die Ansprüche an Gestaltungsqualität und Design sind hoch, die Baukosten in aller Regel knapp kalkuliert. Erste nonkonforme Konzepte zeigen einen möglichen Weg aus dem Schlamassel.

Kein anderer Wirtschaftszweig verzeichnet einen vergleichbar hohen Ressourcen- und Rohstoffkonsum wie die Bau- und Immobilienindustrie. Weltweit wird rund die Hälfte aller stofflichen Ressourcen für die Errichtung von Straßen, Gebäuden und Infrastruktur verbraucht. Bei den mineralischen Rohstoffen sind es sogar knapp 80 Prozent, die auf das Konto des Bausektors gehen. Dazu kommt der fortschreitende Landverbrauch im Zuge von Bautätigkeiten aller Art. So werden alleine in der EU jährlich rund 3 Prozent der verfügbaren Flächen verbaut. Bereits jetzt übersteigt der ­ökologische Fußabdruck – also das Maß für den Ressourcenverbrauch – laut WWF die Kapazität der Erde um rund 25 Prozent. Mit rasant steigender Tendenz: Bis zum Jahr 2050 soll die Übernutzung bei einem doppelt so hohen Bedarf an Rohstoffen liegen, wie tatsächlich langfristig verfügbar ist. Die Konsequenz: nachhaltiges Bauen unter sparsamem Einsatz endlicher Ressourcen und der alternativen Verwendung nachwachsender Rohstoffe gewinnt an Stellenwert und hält zunehmend auch Einzug in die Baugesetzgebung bzw. wird zur Voraussetzung für Förderzusagen. Veränderung kommt halt oft nur durch den Druck von außen. „Für uns als Bau­unternehmen als auch als Projektentwickler ist die Wahl der Baustoffe in der Tat keine einfache Sache. Auf der einen Seite stehen die Ideen des Architekten, seine Gestaltungswünsche, seine Überlegungen auch bezüglich Nutzungsqualität – auf der ­anderen Seite die Kosten, aber ­natürlich auch unser Anspruch, nachhaltige Projekte zu realisieren, mit Baustoffen, die eine hohe Langlebigkeit vorweisen und ihre Herstellung betreffend wie auch im Einsatz völlig unbedenklich sind. Wir beobachten jedoch, dass sich bei Bauherren ein stärkeres Bewusstsein entwickelt hat, ‚gute‘ Baustoffe zu verwenden“, erklärt Elmar Hagmann, geschäftsführender Gesellschafter bei Sedlak Bauunternehmen.

Betrieb und Energiekosten

Neben der Errichtung selbst zeichnet auch der Betrieb von Gebäuden für den enorm hohen Verbrauch an natürlichen Ressourcen verantwortlich, wobei die Beheizung und zunehmend auch die Klimatisierung von Gebäuden den Löwenanteil aus­machen. Rund 40 Prozent des Energieverbrauchs gehen in der Europäischen Union alleine auf das Konto des Gebäudesektors. Womit dieser maßgeblich zur Erhöhung der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre beiträgt. Vor ­diesem Hintergrund sieht auch die von der EU-Kommission be­schlossene und von den Staaten in nationales Baurecht umgesetzte Energieeinsparverordnung (EnEV) eine ­deutliche Reduktion des Energieverbrauchs von Gebäuden vor. So gelten Passiv- und Fast-Nullenergie-Gebäude spätestens ab dem Jahr 2020 als gesetzlich verpflichtender Mindeststandard. Wie dieser bauliche Standard erreicht wird, bleibt weitgehend der Kreativität der Planer und Gebäude­techniker überlassen. Die Bandbreite an baulichen Lösungen reicht von Hightech-Gebäuden, die über maximalen Technikeinsatz und die Kombination unterschiedlichster Systeme selbst alternative Energie erzeugen und effizient nutzen, über Lowtech- bis hin zu „No-Tech“-Gebäuden, die rein über Struktur und Bauweise den Verbrauch von ­Energie und Baurohstoffen auf ein Minimum reduzieren sollen. Beiden Philosophien ist ein hoher Anspruch an die Gestaltung sowie die ­Maximierung des Wohn- bzw. Nutzer­komforts gemein. Denn nachhaltiges Bauen hat nur dann Zukunft, wenn damit keine Einschränkung der Nutzung oder Komfortverluste für die Bewohner und Benutzer einhergeht.

Umdenken schon bemerkbar

Günther Sammer, Geschäftsführer Vasko+­Partner, ist davon überzeugt, dass ein Umdenken passieren wird – und dass dies bereits bei der Wahl der Baustoffe beginnen wird: „Die Miteinberechnung der sogenannten ‚grauen‘ Energie, also der Energie, die bei der Herstellung von Baustoffen benötigt wird, wird an Stellenwert gewinnen. Auch Architekten werden zukünftig sorgfältig die Wahl der Baumaterialien treffen müssen, da die Gesamtenergiebilanz eines Gebäudes in den Vordergrund rücken muss. Wir bemerken bereits jetzt in unserer Zusammenarbeit mit Architekten, dass das Augenmerk verstärkt auf einen Diskurs über die richtige Wahl der Baustoffe und erst dann über die Technologie, die in das Gebäude implementiert werden soll, geführt wird.“

Algenfassade als Bioreaktor

Wie beispielsweise der Einsatz von alternativen Technologien zur Energie­gewinnung mit der Gestaltung einhergeht bzw. diese maßgeblich prägt, zeigt das österreichische Team von Splitterwerk, Grazer Label für Bildende Kunst und Ingenieurwesen, mit ihrem weltweit ersten Gebäude mit Bioreaktorfassade. Das BIQ wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA Hamburg errichtet und verfügt über insgesamt 129 Glas­segmente, die wie kleine Aquarien der Südwest- und Südostfassade vorgelagert sind. In diesen vertikalen Aquarien werden Mikroalgen gezüchtet, die dafür sorgen, dass sich das Gebäude autark selbst mit Energie versorgen kann. Dazu werden die Algen über einen getrennten Wasserkreislauf mit Nährstoffen und Kohlendioxid aus der hauseigenen Biogasheizung versorgt. Gespeist wird diese über die Algen, die dank der Sonneneinstrahlung und Photosynthese ein reges Wachstum aufweisen und regelmäßig „geerntet“ werden. Zusätzlich fungieren die Glas­elemente auch als Solaranlage, die für die Warmwasserbereitung und als Heizungsunterstützung dient. Wärmeüberschüsse werden für ­kalte Tage mithilfe von rund 80 Meter tiefen Erdwärmesonden „zwischengelagert“. Die innovative zweite Haut des Gebäudes kombiniert damit Solarthermie, Geothermie, einen mit Biogas betriebenen Brennwert­kessel, Nahwärme und die Gewinnung von Biomasse in einem System. Dass dabei die gesamte regenerative Energiegewinnung für alle sichtbar an der Hausfassade abläuft, ist ein durchaus gewünschter Effekt des Gebäudedesigns.

Lowtech aus dem Ländle

Je besser die bauliche Struktur an die grundlegende Funktionalität des Gebäudes angepasst ist, desto weniger technische Unterstützung ist erforderlich, um das Gebäude an die Bedürfnisse der Benutzer anzupassen. Bestes Beispiel hierfür ist das Bürogebäude 2226 des Vorarlberger Architekten Dietmar Eberle. Der sechsgeschoßige Kubus aus Ziegeln kommt ohne Heizung, mechanische Lüftung und Kühlung aus und hält dabei ganzjährig eine Temperatur von 22 bis 26 Grad (siehe Immobilienwirtschaft 01/2014).

CO2-neutraler Holzbau

Nicht nur bei der Errichtung von Einfamilienhäusern, sondern auch im Geschoßwohnbau, bei Büro- und Gewerbeimmobilien zeigt der Baustoff Holz Präsenz und überzeugt nicht nur mit Nachhaltig­keitsargumenten, sondern auch in gestalterischer Hinsicht. Grundlegende Verbesserungen in Bezug auf den Schall- und vor allem den Brandschutz haben dazu geführt, dass Holz heute vermehrt auch in urbanen Ballungsräumen zum Einsatz kommt – selbst bei der Errichtung von Hochhäusern. So ist der Einsatz von Holz als Konstruktionsbaustoff mittlerweile auch in der Bauklasse 5 möglich, womit bis zu maximal sieben Geschoße in Holzbauweise errichtet werden können. In Österreich gilt Holz dank des großen Waldbestandes als der einzige nachwachsende Konstruktionsbaustoff und fungiert zudem auch als CO2-Speicher. Rund eine Tonne Kohlendioxid wird beim Wachstum in jedem Kubikmeter Holz gespeichert. Mit fast vier Millionen Hektar Waldbestand – fast die Hälfte des gesamten Bundesgebiets – zählt Österreich zu den waldreichsten Regionen Europas. Trotz der kontinuierlichen Steigerung des Holzbauanteils wächst in Österreich nach wie vor mehr Wald nach als derzeit wirtschaftlich verbraucht wird. Um rund 40 Kubikmeter alle 40 Sekunden ver­größert sich die heimische Holzreserve. Eines der größten Holzbauvorhaben entsteht derzeit direkt an der Peter-­Rosegger-Straße im Grazer Zentrum Reininghaus Süd. Bis Herbst dieses Jahres soll die urbane Passivhaussiedlung mit Vorbildcharakter für die zukünftige nachhaltige Stadtentwicklung fertiggestellt sein. Noch vor Abschluss der Bauarbeiten wurde die multifunktionale Stadtteiler­weiterung nach dem Wettbewerbsentwurf von Nussmüller Architekten mit dem Total-Quality-­Building-Zertifikat für höchste Bau- und Energiequalität ausgezeichnet. Die Energie­versorgung für Heizung und Warmwasser erfolgt über die Nutzung der Erdwärme durch eine Tiefengründung sowie mittels Fotovoltaik. Mit einem jährlichen Heizwärmebedarf zwischen 6,68 und 8,83 Kilowattstunden pro Quadrat­meter erreicht die Passivhaussiedlung den Energiestandard A++ laut Österreichischem Institut für Bautechnik. Das gilt für alle zwölf Einzelhäuser mit reiner Wohn­nutzung, die hinter dem Wohn- und Dienstleistungsblock (Niedrigenergiestandard A–B) entlang der Peter-Rosegger-­Straße liegen. Wie bei der Energiegewinnung wird auch in Sachen Verkehr auf alternative Lösungen gesetzt. So sollen für die Wohnungseigentümer Elektroautos in Form von Car-Sharing zu moderaten Preisen zur Verfügung stehen, womit auf die Anschaffung eines (Zweit-)Autos verzichtet werden kann. ­Diese Kombination aus Passivhaus­technologie, erneuerbarer Energie und E-Mobilität ist das Ergebnis der interdisziplinären Zu­sammenarbeit im Rahmen des Forschungs­projekts „Haus der Zukunft“.

Ökologische Wohnraumqualität

Die Grazer Reininghausgründe beherbergen nicht nur die ersten fünfgeschoßigen Holz-Wohnbauten in der Steiermark, sondern beschreiten auch in anderer Hinsicht Neuland. So sind zur ­Verbesserung der Raumluftqualität auch die Holz­decken in den Wohn- und Schlafräumen als unbehandelte Sichtholzkonstruktion erhalten. Aber auch die Kombination von Brettschichtholz mit Lehmputz ist neu und nicht nur ein gestalterisches Highlight der Wohnungen. In Verbindung mit den massiven Holzwänden sorgt der Lehmputz für ein gesundes, angenehmes Raumklima. Denn das ökologische Putzmaterial nimmt bei Überschuss Feuchtigkeit auf und gibt diese langsam wieder an den Raum ab. So entsteht auf ganz natürlichem Weg ohne technische Unterstützung eine ange­nehme Luftfeuchtigkeit in den Innenräumen. Ökologie und Nachhaltigkeit haben aufseiten der Baugesetzgebung und in Bezug auf die Baurichtlinien auch auf europäischer Ebene an Gewicht gewonnen. So wurde beispielsweise die EU-Bauproduktenrichtlinie durch die im Juli 2013 in Kraft getretene Bauprodukteverordnung ersetzt. Als EU-Verordnung muss diese nun nicht mehr in nationales Recht umgewandelt werden, sondern gilt unmittelbar als verbindliche Rechtsvorschrift. Mit der Neufassung wurde auch die „Nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen“ als siebte Grundanforderung neu hinzugefügt, womit ökologische und nachhaltig produzierte Baustoffe an Bedeutung gewinnen. Darüber hinaus haben auch „Hygiene-, Gesundheits- und Umweltschutz“ in die Verordnung Einzug gehalten, ebenso wie es eine Änderung bei „Energieeinsparung und Wärmeschutz“ gibt. So wird bei Gebäuden nun nicht nur die maximale Energie­effizienz des Gebäudes selbst gefordert, sondern auch, dass während des „Auf- und Rückbaus“ möglichst wenig Energie verbraucht wird, womit der gesamte Lebens­zyklus eines Bauwerks abgedeckt ist. Damit ist nachhaltiges, umweltschonendes Bauen ein verbindlicher Mindeststandard, der gleichberechtigt neben Nutzungs­qualitäten und Gestaltung steht.

 

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